Home

Marilyn Crispell

Weißt du wieviel Sternlein stehen?

Die amerikanische Pianistin Marilyn Crispell zählt zu den avanciertesten Erscheinungen im Bereich der zeitgenössischen improvisierten Musik. Im Umfeld des Saxophonisten Anthony Braxton und der Chicagoer Avantgarde-Szene hat sie einen unverwechselbaren Stil von perkussiver Wucht und sinnlicher Melodik entwickelt, der die Pianistik Cecil Taylors mit der spirituellen Magie John Coltranes verbindet.

Tom Fuchs und Manfred Müller sprachen mit Marilyn Crispell - die im November beim Berliner Jazz-Fest gastieren wird - anläßlich eines Solo-Konzerts im Herbst letzten Jahres im Kölner Stadtgarten.

Marilyn, in aller Kürze, wie verlief dein Ausbildungsweg?

Ich spiele Klavier seit meinem achten Lebensjahr. Mit zehn besuchte ich das Peabody Conservatory in Baltimore und studierte dort bei einer Frau, die auf das Unterrichten von Kindern spezialisiert ist. Eine sehr gute Schule, in der wir auch Harmonielehre, Komposition und Musiktheorie lernten.

Dann ging ich für vier Jahre zum New England Conservatory in Boston, um Klavier, aber auch Komposition und Cembalo zu studieren. Nachdem ich dann geheiratet hatte, spielte die Musik für sechs oder sieben Jahre keine besondere Rolle in meinem Leben, bis ich durch Plattenaufnahmen - besonders John Coltranes »A Love Supreme« - zum Jazz gefunden habe.
Bei Charlie Banacos, der früher in Berkeley unterrichtete, nahm ich zwei Jahre Privatstunden und habe viel über traditionellen Jazz gelernt, danach ging ich zu Karl Bergers Creative Music Studio in Woodstock, wo Leute aus der ganzen Welt unterrichteten, zeitgenössischen Jazz und auch Neue Musik, Leute wie John Cage und Christian Wolff,

War es schwer für dich, die Entwicklung von der Klassik zum Jazz und der improvisierten Musik zu vollziehen oder war es eher eine natürliche Entwicklung?

Es war beides. Ich habe ja immer schon improvisiert. Wir wurden ja in Peabody dazu angeleitet. Dann habe ich für Modern-Dance-Klassen gespielt, seit ich vierzehn war. Auch das waren immer Improvisationen.
Später hörte ich dann McCoy Tyner. Diese Art von Harmonik war mir sehr geläufig, aber die Emotionalität und die Intensität kannte ich nicht, und das fand ich sehr faszinierend. Es war irgendwie vertraut, aber auch ein großer Wechsel.

Ich mußte lernen zu hören, wenn jemand ein Stück spielte und dann über die Struktur dieses Stückes improvisierte. Ich mußte den zeitlichen Verlauf heraushören, erkennen, welche Harmonie an welcher Stelle des zeitlichen Ablaufs ihren Platz hat, das kannte ich noch nicht. Das war vielleicht das Schwierigste für mich.

Machst du einen Unterschied zwischen Jazz und improvisierter Musik generell?

Es ist alles improvisierte Musik. Da wird mir nicht jeder zustimmen, aber das ist egal. Viele Leute, vor allem die Chicagoer Szene, das Art Ensemble, Anthony Braxton, Henry Threadgill, sie haben die Tradition genommen und erweitert. Ich weiß nicht, wo da das Problem ist. Man kann nicht sagen, ich spiele für immer nur Beethoven, alles andere ist skandalös. Die ganze Tradition des Jazz ist eine innovative und ungewöhnliche Sache, und ich verstehe nicht, warum sie plötzlich stoppen sollte.

Du sagtest einmal, neben Cecil Taylor sei von John Coltrane für dich die größte Inspiration ausgegangen ...

Ja, vielleicht hatte er den größten Einfluß.

Wie läßt sich der Coltrane-Stil auf das Klavier übertragen?

Es hat für mich viel mit der Emotionalität und der Intensität zu tun. Auch mit den harmonischen Bewegungen. Natürlich kann man nicht klingen wie ein Saxophon, es ist mehr der Geist dieser Musik, den ich gesucht habe.

Ist es nicht erstaunlich, daß eine einzelne Person diesen Einfluß auf die Musikgeschichte haben konnte?

Es gibt nur sehr wenige von dieser Größe, Cecil Taylor vielleicht noch. Cecil hat für mich die Verbindung zwischen Jazz, Improvisation und der westlichen Klassik geschaffen, jedenfalls die erste, die wirklich tragfähig war. Ich denke, er ist sogar der Bedeutendere, aber vielleicht hatte Coltrane den größeren Einfluß, einfach weil der aus einer traditionelleren Richtung kam, und ich glaube, es waren und sind viele Leute nicht bereit, die Innovationen eines Taylor zu akzeptieren, oder auch die eines Anthony Braxton.

Brüderlein, komm tanz mit mir

Ein weiterer großer Einfluß ging für mich von Abdullah Ibrahim aus, sein Feeling, der Rhythmus, das Spirituelle. Auch Paul Bley und Keith Jarrett waren wichtig. Auch Don Pullen.

Der späte Don Pullen?

Nein, eher die früheren Soloplatten. Ich hörte ihn einmal in der New Yorker Knitting Factory im Duett mit dem Saxophonisten Hamiet Bluiett. Er spielte auch ein grandioses Solo in diesem Konzert. Und als es zuende war, dachte ich, wie können sie jetzt noch etwas anderes spielen. Und prompt fragte Hamiet Bluiett: "Sollen wir noch etwas spielen?"

Wenn du übst, stehen da eher musikalische oder technische Aspekte im Vordergrund?

Ich übe nie mit dem selben Gefühl und der Intensität, wie ich in einem Konzert spielen würde. Ich sitze da und versuche an bestimmten Sachen zu arbeiten. Manchmal nehme ich eine Idee und spiele sie durch alle Tonarten. Und Bach spiele ich viel, die Französischen Suiten, die Goldberg-Variationen …

Ist das eine gute Schule?

Ich liebe die Musik. Für mich ist sie das größte, was je geschrieben wurde. Zudem schult man das Gefühl für die Form.

Bei einem Konzert in Bonn letzten Sommer, spieltest du zum Aufwärmen Bach und andere Klassiker. Brauchst du diesen Kontrast? Ist es besser, sich vor dem Konzert in einer anderen Welt zu bewegen?

Möglich. Es gibt bestimmte Stücke, die ich gewöhnlich zum Aufwärmen spiele. Ein Konzert ist für mich eine sehr spezielle Sache, wie eine Zeremonie, und das versuche ich mir zu erhalten. Deshalb will ich nicht zuviel vorher spielen von den Sachen, die ich mir für das Konzert vorgenommen habe. Das Programm muß auch für mich noch überraschend sein.

Du hast dort sehr perkussiv gespielt. Ist das typisch für deinen Stil.

Das ist ein Teil meines Spiels, der andere Teil ist sehr lyrisch. Beides gehört zusammen.

Was bedeutet Anthony Braxton für deiner musikalischen Entwicklung?

Er war extrem wichtig. Sein Sinn für die Räume, wie er seine Ideen organisiert und seine Auffassung des Ensemblespiels. Wir haben lange Zeit zusammengearbeitet, allein 10 Jahre habe ich in seinem Quartett gespielt.

Beziehst du auch Inspirationen von außerhalb der Musik?

Kunst, Lyrik, Tanz in erster Linie. Ich interessiere mich leidenschaftlich für Kunst. Ich gehe in Ausstellungen, lese Bücher, um Anregungen zu finden. Ich schreibe auch selbst Gedichte.

Gibt es besondere Künstler für dich?

Rauschenberg, Cy Twombly, Richard Diebenkorn... Es sind immer zwei Extreme, die ich mag. Diebenkorn, eher meditativ und sehr organisiert, demgegenüber Rauschenberg, der für mich eher wie Cecil Taylor ist. Er ist ein komplettes Genie. Unfaßbar.

Der Gitarrist Wolfgang Muthspiel arbeitet gerade an einem Projekt, bei dem er vor Cy Twombly-Bildern spielen will. Würde dich so etwas auch reizen?

Ich habe auch schon in Museen und Galerien gespielt, und die Bilder haben definitiv einen Einfluß auf die Musik. Aber es würde mich weniger interessieren, das als Konzept zu planen. Wenn ich mit etwas arbeite in der Musik, dann mit etwas, das sich aktiv ereignet, wie Tanz oder Poesie. Wenn jemand malen würde, während ich die Musik spiele, das fände ich interessant.

Hast du denn Möglichkeiten zu derartigen Performances?

Eigentlich schon, aber vor allem das Geld ist immer ein Problem. Ich habe einiges mit Tänzern gemacht. Auch mit Dichtern habe ich schon gearbeitet.

Wie sind deine Möglichkeiten für Konzertauftritte in den USA verglichen mit Europa?

Es ist überall schwer, schon wegen der ökonomischen Situation. Aber das Publikum hier ist fantastisch. Die Leute fragen, warum man nicht mehr von dieser Art Musik zu hören bekommt, und sie fragen auch nach den Platten. Das Publikum ist sicher nicht das Problem. Es sind eher die Promoter und Clubbesitzer, die Angst haben, nicht genug Geld zu machen.

Wie siehst du die weitere Entwicklung im Jazz und in der improvisierten Musik?

In dem Maß, wie die Welt kleiner wird und man mit Musik aus allen Teilen der Welt in Berührung kommt, wird alles zusammenwachsen und sich gegenseitig beeinflussen, Pop, World Music, alles. Aber es hängt immer davon ab, wer die Musik in Zukunft machen wird, und das kann man nicht im voraus wissen. Auch wie sich die ganze Technik entwickelt, ist unmöglich vorauszusagen.

Was meine eigene Musik betrifft, komme ich auf ein mehr melodisches Feeling zurück, und ich versuche, das mit dem zu verbinden, was ich vorher gemacht habe.

Tom Fuchs und Manfred Müller

OBST-Diskographie

Stellar Pulsations 1994 Leo Records

andere Veröffentlichungen:
• Anthony Braxton: Quartet 1985 Leo Records
Gaia 1987 Leo Records
The Kitchen Concerts 1989 Leo Records
Live in San Francisco 1989 Music & Arts
Santuerio 1993 Leo Records
Spring Tour 1994 Alice
For Coltrane 1994 Leo Records
Cascades 1996 Music & Arts
• Overlapping Hands: Eight Segments 1997 FMP
Music of Anette Peacock 1997 ECM