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Peter Rühmkorf mit Dietmar Bonnen und Andreas Schilling – Früher, als wir die großen Ströme noch …

Rühmkorf

 

1 Ansteckendes Pfeifen 2’56
2 Rückblickend mein eigenes Leben 3’29
3 Lyncheus der Türmer 4’33
4 Letzte Ausfahrt Ithaka 7’02
5 Überraschendes Wiedersehen 8’02
6 Lully 2’24
7 Betrifft: Rundfrage Grundfrage 4’54
8 Früher, als wir die großen Ströme noch 6’48
9 Ich liebe Dich, Liebe 2’10
10 Altern als Problem 4’03
11 Kurz 0’39

Peter Rühmkorf: Stimme
Dietmar Bonnen: Komposition, Piano
Andreas Schilling: Komposition, Kontrabass
Tom Gerke, Michael Pape, Dett Heidkamp: Schlagwerk

(P) 2006 Bonnen/Schilling © 2006 Random House Audio Copyright © by Peter Rühmkorf Copyright © 1999 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Die Zusammenarbeit von Peter Rühmkorf, Dietmar Bonnen und Andreas Schilling hat ihren Ursprung in einer Live-Veranstaltung zur lit.COLOGNE 2001. Die Veranstalter fragten die beiden Kölner Komponisten und Musiker, ob sie den Dichter bei einer Lesung im Sendesaal des WDR begleiten könnten. Rühmkorfs Auftritte aus den sechziger Jahren, in denen er seine Lyrik von Jazzmusikern wie Johnny Griffin, Albert Mangelsdorf oder Charly Haden begleiten ließ, waren noch in guter Erinnerung und legten es nahe, diese Veranstaltung mit improvisierter Musik zu kombinieren.
Bonnen und Schilling hatten schon oft gemeinsam improvisiert, und es gab auch CD-Veröffentlichungen davon. Allerdings waren das keine Jazz-Improvisationen sondern eher experimentelle ad-hoc-Kompositionen. Diese kamen den Wünschen des Dichters nach zeitgemäßeren Ausdrucksformen entgegen; es sollte eben nicht wie damals klingen. „… am besten überschaubare, in sich geschlossene Piècen, auch Capriccios wären nicht unwillkommen.“
Man traf sich also in Köln und die Lesung wurde ein großer Erfolg: Die beiden Musiker komponierten ad hoc auf Flügel, Kontrabass, Kinderklavier und Hohner-Örgelchen. Peter Rühmkorf war begeistert und lief zu rezitatorischer Höchstform auf, der WDR sendete ungeschnitten. Dies war der Anfang einer produktiven Freundschaft, deren letztes Arbeitsergebnis die vorliegenden Aufnahmen sind. Zunächst rezitierte Rühmkorf eine Auswahl seiner Gedichte im Studio auf Band. Dazu entstand dann die Musik von Bonnen und Schilling, sorgfältig „maßgeschneidert“ um die Lyrik herum-, darunter- und daraufkomponiert. Das Instrumentarium beschränkt sich auf Klavier, Kontrabass und Schlagzeug (das klassische Jazz-Trio!), diese werden jedoch im erweiterten Sinne als Klangquelle eingesetzt und damit von den Fesseln ihrer Spielbarkeit befreit: So wurden etwa Metallgeräusche aus dem Inneren des Flügels aufgenommen, die Aufnahmen dann im Computer „zerschnipselt“, die Schnipsel rhythmisiert, Flageolet-Töne vom Kontrabass mehrstimmig darüber montiert, u.s.w. Wichtig war dem Dichter, dass die Musik gleichberechtigt zu den Texten bestehen kann, wie eine »klassische« Gedichtvertonung mit den neuesten technischen Studiomöglichkeiten; vor allem aber sollte viel Raum für die Atmosphäre der Stücke vorhanden sein und keine Text-an-Text-Aufreihung entstehen. Nachdem Dichter und Komponisten/Musiker mit allen Stücken rundum zufrieden waren, konnte die hier vorliegende Reihenfolge erstellt und die CD gemastert werden.

Text: Bonnen/Schilling

Peter Rühmkorf hat sich beim Vortragen seiner Gedichte schon von vielen Musikern begleiten lassen. Bereits Legende sind seine Auftritte aus den 1960er Jahren auf dem Hamburger Adolphsplatz, mit Michael Naura am Flügel und Wolfgang Schlüter am Vibraphon. Auch mit Volker Kriegel, Albert Mangelsdorff und Charlie Haden hat er schon auf der Bühne gestanden. Seit einem gemeinsamen Auftritt auf der Lit.Cologne 2001 arbeitet Rühmkorf mit den beiden Kölner Musikern Dietmar Bonnen (Piano) und Andreas Schilling (Kontrabaß) zusammen. Jetzt haben die Musiker in einer Studio-Produktion elf von Rühmkorf gesprochene Gedichte – bis auf zwei Ausnahmen aus dem Band »Vorletzte Gedichte« – mit einer maßgeschneiderten Begleitung versehen.
"Heute morgen mich plötzlich wieder mal
auf der Straße pfeifen gehört:
einfach so, Johnny Griffin »Wait in the Water«.
Doch kein schlechtes Zeichen.
Ob es länger reicht als für den Tag - schwer zu sagen.
Immerhin: als ich merke was los ist,
vorn, mein Mund, die Lippen
ohne jeden erkennbaren Anlass von sich aus zugespitzt
und auf einmal ist die ganze Parkallee am pfiffeln!
Da muss ich doch was losgeflötet haben."

Ein Hauch Selbstironie

Keine Frage, hier spricht der Dichter, wie immer ironisch, von sich selbst - und von seiner Kunst, dem zersplitternden Ego wenigstens im Gedicht so etwas wie Fassung zu geben. Und das mit einer Leichtigkeit, um die manch anderer Achtundsiebzigjährige ihn beneiden wird. Mal variiert Rühmkorf in seinen "vorletzten Gedichten" Volkslied-Strophen, mal tupft er auf lockerem Versfuß Bagatellen und Capriccios hin – und wirft dabei durchaus auch existentielle Grundfragen auf.
"Die Frage nach dem Sinn kennt keine Ruh:
Wohl weiß ich, dass ich bin,
doch nicht wozu.
Trotzdem behaupte ich: die Welt alleine,
ich meine: ohne mich
das wär’ noch keine.
Selbst meine Tante wär’ nicht meine Tante
die Jahre die ihr kennt
die große Unbekannte."

Die teilweise elektronisch nachbearbeitete Musikbegleitung ist ein seltener Glücksfall in der Sparte Jazz und Lyrik. Hier wird mehr geboten als die Einpendelung der arbeitsteiligen Künste auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dietmar Bonnen am Piano eröffnet mit seinen von Erik Satie inspirierten Introduktionen einen angemessenen Klangraum für Rühmkorfs Auftritt und unterstreicht dann mit vorandrängenden Klavierfiguren auch dessen Sprechgestus.

Streit im Oberstübchen

Meist laufen die Stücke in improvisierten Instrumentalpassagen aus: so schwingen noch lange die rhythmischen Strukturen dieser feingegliederten Poesie nach. Selbst der dialogisch-dialektische Charakter dieser Lyrik wird von der Musik noch reflektiert. Peter Rühmkorf spricht ja meist mit mehreren Zungen, zitiert ehrwürdige Vorläufer und lässt die verschiedenen Stimmen zu Wort kommen, die sich in seinem Oberstübchen streiten. Da wohnt der Melancholiker: er kann sich der eigenen Existenz nur in Form eines Fragezeichens versichern; ihm fällt der Hedonist ins Wort, der die Blicke nicht abwenden will von den Schönheiten der Natur - vor allem auch der weiblichen. Der Verfertiger feiner Schreibwaren fühlt sich von einer kaum noch zu unterbietenden Eventkultur vom Markt gedrängt; und das politische Subjekt denkt an jene mythische Zeit zurück, "als man die großen Ströme noch mit eigenen Armen teilte".
 .
"Wer noch ein Ziel vor den Augen hat, ist natürlich fein raus
Damals, wie wir, als wir noch jung und unbelehrbar waren:
einen Kommunismus, der mit möglichst wenig Blut auskommt
und die pausenlos investierten Mühen planmäßig wieder einspielt
der Kampf hat ihnen kein Glück gebracht und die Welt nicht gebessert.
Immer schwieriger mit der Zeit, hier noch eine glaubwürdige Faust zu ballen."

Aber bevor sich zwischen Vanitasgefühlen und Verlustanzeigen Resignation breit macht, zieht sich Rühmkorf zu seinem und unserem Vergnügen lieber im gewohnten Schnodderton aus dem Alltagssumpf:

"Wer der Welt zu tief ins Auge gesehen hat, um noch an ihr leiden zu wollen
wird den Mangel an Service hier nicht so persönlich nehmen
Lieber als dass ich einiger abgesoffener Salatblätter wegen gleich nach dem Chef des Hauses verlang’
Lass’ ich mir doch das restliche Abendlicht auf der Netzhaut zergeh’n."

Holger Schlodder
NDR 27. März 2007

 

 

Literatur für die Ohren.
Auf dieser CD finden sich späte, und laut Peter Rühmkorf, „vorletzte“ Gedichte. Es sind Elegien und Abgesänge des großen Wortartisten. Die Kölner Musiker und Komponisten Dietmar Bonnen und Andreas Schilling korrespondieren feinnervig zurückhaltend auf den teils sarkastischen, teils heiteren Alterston des Büchnerpreisträgers.

hr2 Hörbuch-Bestenliste vom März 2007

Hörbuch der Woche
Peter Rühmkorf ist neben Hans Magnus Enzensberger der bedeutendste deutsche Dichter seiner Generation. 1929 geboren, ist der Vokalvirtuose Rühmkorf u.a. mit dem Büchner-Preis sowie dem Heine-Preis ausgezeicnet worden. Jetzt legt er ein Hörbuch vor, auf dem er, begleitet von Jazz-Musik, einige seiner Gedichte liest.
Jazz und Lyrik, das geht längst nicht immer gut. Gut, es gibt die Klassiker: Gert Westphal liest Gedichte von Gottfried Benn und dazu dann Musik von Dave Brubeck u.a. – das war gelungen, aber oft genug, sagt Peter Rühmkorf, sind „die falschen Truppen“ beisammen, so dass das Zusammenspiel nicht harmoniert. Es müssen, so der großartige Poet, schon bestimmte Größen zusammenarbeiten „und es muss eine ausgesprochen abgefeimte Tonregie dazukommen“, dann, nur dann könnte es klappen, die Verschmelzung von Jazz & Lyrik.
„So geht es, wenn nämlich nicht Ton auf Ton, Ton auf Wort, Ton auf Silbe komponiert wird, sondern wenn da unten etwas fließt und oben surft der Dichter obendrauf gewissermaßen, ja.“
Der vielfach ausgezeichnete Dichter Rühmkorf hat gemeinsam mit den Musikern Dietmar Bonnen und Andreas Schilling eine Studio-Aufnahme gemacht, Jahrzehnte nachdem ihn Charly Haden, Albert Mangelsdorff und Johnny Griffin begleitet hatten. Entstanden ist dabei eine gelungene neue Jazz & Lyrik-CD.

Rühmkorf, der große Selbstironiker, besingt mit Blick auf die Elbe in seiner Mansardenwohnung in Hamburg-Övelgönne gern auch seine Altersgebrechen, und er erzählt, schon oft »vom Schüdderump«, dem Leichenkarren, der Wilhelm Raabes Roman den Titel gab, gehüpft und damit dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein. Den leichtfüßigen Ton hat sich Rühmkorf auch mit Ende 70 noch erhalten.
Gewiss, er kennt das Problem: Pegasus droht durchzugehen, wenn man auf seine wundervoll musikalischen Sprachspielereien noch mal Musik draufsattelt. „Die sind so musikalisch, ... eigentlich nur mit Jazz.“ Und diesen Jazz spielen auf Klavier, Kontrabass und Schlagzeug die beiden Kölner „Komposer“ Dietmar Bonnen und Andreas Schilling auf der CD »Früher, als wir die großen Ströme noch ...«. Ein  schöner Querschnitt durch Rühmkorfs „Reimgalaxis“.
Übrigens, auch die Gottfried –Benn-Hommage »Altern als Problem« findet sich auf der CD »Früher, als wir die großen Ströme noch ...«, – ein Werk, das sofort Aufnahme finden sollte in den Kanon!

Bayern 2 Radio 11.2.2007
Knut Cordsen

 

Literatur für die Ohren

Hr2 Hörbuchbestenliste vom Januar 2010 Platz 4

Stephan Opitz (Hg.): Peter Rühmkorf – Jazz & Lyrik
Sprecher: Peter Rühmkorf; Musik: Michael Naura, Wolfgang Schlüter, Dietmar Bonnen u. a.
In den fünfziger Jahren entwickelte der Schriftsteller gemeinsam mit den Musikern Naura und Schlüter die einzigartige Form von Jazz & Lyrik. Die vorliegende Edition beinhaltet vertonte Gedichte aus dreißig Jahren, von Rühmkorf mit herausragenden Musikern interpretiert. Seine Stimme wird dabei zum Instrument, mit dem er – mal begleitend, mal als Solist – virtuos improvisiert. Ein wahres Hörvergnügen.