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Susanne Hille – Verruca

Verruca

1. GemTu sei morta aus »La favola d’Orfeo«, 1607 / Monteverdi 3’11
(Text: Striggio, Bearb. Hille 2001) Gesang: Hille, Beitel: Kucken
2. Io tengo un calabron in un orciuolo 2001 / Bonnen 8’30
(Text: Michelangelo) Gesang: Hille, Chor: LES SAXOSYTHES, Chorleitung: Bonnen, Subdirigat: I. Mitze, A. Meyer, H. Kortevoß
3. Se i languidi miei sguardi (lettera amorosa a voce sola)* / 9’35
Monteverdi, (Bearb. Bonnen 1996) Gesang: Hille, Klavier: Bonnen
4. Ardo (VIII. Madrigalbuch) 1638 / Monteverdi 3’46
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präpariertes Klavier: Bonnen
5. Non è di gentil core* / Monteverdi (Text: Atti) 4’02
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präp. Klavier: Sokolov
6. Io son pur vezzosetta pastorella* / Monteverdi 3’27
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präp. Klavier: Bonnen
7. Collagio / (Bearb. Hille/Deistler 2001) 0’26
Gesang: Hille, Beitel: Kucken
8. Hannah, 1995 / Bonnen 7’29
(Text: Knips, Mayer, Niehaus, Schubert)
Gesang: Hille, Kirzinger
9. Quintett über eine Folge von Tönen bei Bach, 1997 / Bonnen 4’39
Gesang: Hille, Klavier: Sokolov
10. Tornate* / Monteverdi (Text: Marino) 2’43
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präp. Klavier: Sokolov
11. O come sei gentile* / Monteverdi (Text: Guarini) 4’00
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präp. Klavier: Bonnen
12. O viva fiamma* / Monteverdi 3’39
Gesang: Hille, Kirzinger, Cembalo: Klein, Präp. Klavier: Sokolov
13. Se pur destina E vole il cielo (partenza amorosa a voce sola)* / 11’12
Monteverdi (Bearb. Bonnen 2000) Gesang: Hille, Klavier: Bonnen
14. Algarabìa, 1996 / Bonnen (Text: Knips) 10’28
Gesang: Hille, Chor: LES SAXOSYTHES, Chorleitung: Bonnen
15. Lasciatemi morire aus »L’Arianna« (lamento d’Arianna), 1608 / Monteverdi 1’33
(Text: Rinuccini, Bearb. Hille 2001) Gesang: Hille, Beitel: Kucken
* (VII. Madrigalbuch) 1619
Gesamtdauer: 78’50
Gesamtkonzeption: Susanne Hille
Produktion: Susanne Hille, Dietmar Bonnen
Aufnahme, Mischung, Mastering: Stefan Deistler
Textbeiträge: Andrea Rosenschon, Ignaz Knips
Layout: Corinna Hertlein
Skulptur und Bilder: Bernhard Kucken
 
Zeichnung: Bernhard Kucken
 
 
 
Mit den von Susanne Hille zusammengestellten Einspielungen – acht Madrigale, die »Klage des Orfeo« und »Lasciatemi morire« aus dem »Lamento d’Arianna« von Claudio Monteverdi (1567-1643) und vier Kompositionen Dietmar Bonnens (*1958) – werden Werke des italienischen Frühbarock und Zeitgenössisches vorgestellt. Das Frühe, zeitgenössisch in der exponierten Stimmführung und in den Bearbeitungen/Ausführungen des fakultativen Generalbass, einer Notationsweise, die Kompositions- und Aufführungspraktiken zeitgenössischer Musik sehr entgegenkommt.
     An Monteverdis Madrigalen ist die zunehmende Chromatisierung in einer vertikalen Ausdrucksharmonik hervorzuheben, weiter das unerwartet ein—setzende Dissonante in Funktion der Textartikulation. Das Madrigal ist ursprünglich eine literarische und musikalische Gattung. S. Hilles Projekt bringt dies unter anderem mit Kompositionen D. Bonnens wie »Hannah« (1995) und »Algarabìa« (1996) zusammen, mit polyphonen bzw. polystilistischen Klanggebungen zu polytexturalen Gebilden. Für Hörende eröffnen sich Klangräume als Einladungen zu Erfahrungen von Analogem verschiedenster Ebenen und Nuancen: mit den ornamental nicht zu beruhigenden Madrigalstimmen und mit der synästhetischen Anlage von Kompositionen D. Bonnens: Bild - Text - Klang, Klang - Text - Bild, Text - Klang - Bild.
     Der zeitgenössische Philosoph G. Deleuze hat Züge einer Ästhetik des Barock über Betrachtungen zur Philosophie des Barock zu erschließen versucht, die nicht zu einer Einschränkung von Prinzipien, sondern zu deren Vervielfältigung führe. Dies im Versuch, das Bild einer einheitlichen Vernunft gerade durch Wahrung oder Einrichtung von Unstimmigem zu ’erhalten’ in der Auflösung von Dissonanzen und durchaus über Verkleidungen und Maskeraden, eingerichtet in vernunftbetonten Erwägungen: „… und das ist den dissonanten Zusammenklängen eigen, wobei der Zusammenklang hierbei darin besteht, die Dissonanz vorzubereiten und aufzulösen, wie in der doppelten Operation der Barockmusik.” (Die Falte. Leibniz und der Barock, 1988. Übers. Frankf./M. 1995) Weiter heisst es: „Der Text wird den Zusammenklängen gemäß gefaltet und von der Harmonie eingehüllt. Dasselbe Ausdrucksproblem belebt die Musik noch immer, bis zu (…) John Cage, Pierre Boulez (…) und Luciano Berio. Es ist kein Problem der Entsprechung, sondern des ’fold in’ oder des ’pli selon pli’.”
     In den Einspielungen der Madrigale (VII. u. VIII. Madrigalbuch 1619 u. 1638) sind die Gesangs- und Basslinien im Original belassen. Das Madrigal »Se i languidi miei sguardi. Lettera amorosa a voce sola…« ist von D. Bonnen mit einer improvisierten Klavierbegleitung versehen, in der der Generalbass mit teils erweiterten Sext- und Septakkorden und mit Nebenlinien ausgeführt wird. In der Einspielung des Madrigals »Se pu destina. Partenza amorosa a voce sola…« ist die Rhythmik der Klavierbegleitung an ’orientalische’ Rhythmen angelehnt, sind die Akkorde manchmal halbtaktisch verschoben. Die sechs Madrigale zu zwei Stimmen sind mit der Cembalobegleitung in ’originaler’ Spielweise versehen und mit zusätzlichen Klavierklängen „angereichert”.
     Wenn Monteverdis »L’ Orfeo, favola in musica« (uraufgeführt 1607; Partiturdruck 1609) als erste bedeutende Oper überhaupt gilt, dann wegen des betont ausdrucksvollen Stils der Einrichtung einer korrespondierend selbstständigen Wirkung von Text- und Orchesterstimmen. In Susanne Hilles Version der »Klage des Orfeo« um die tote Euridice aus dem 2. Akt – »Tu sei morta« – Rückblicke auf Rückblicke, ist die Gesangsstimme a cappella vorgetragen, allein begleitet durch unterlegte Bildhauergeräusche. Eine Interpretation, die ein Verhältnis von „Emotion” und „Architektur” der Musik Monteverdis, von „zwei Aspekten derselben Sache” (I. Strawinski), in einem äußersten Spannungsfeld erfahrbar macht. Dies auch mit der geräuschunterlegten a-cappella-Einspielung aus dem »Lamento d’Arianna« (L’ Arianna, opera; uraufgeführt 1608). Bis auf das »Lamento« (Partiturdruck 1623) ist die Partitur der Oper verlorengegangen.
 
 
     In D. Bonnens Vertonung »Io tengo un calabron in un orciuolo« (2001), eines von S. Hille ausgewählten Gedichtes von Michelangelo (1475-1564) – »I’sto rinchiuso come la midolla« (Ich bin, wie Mark, in Rinde eingeklemmt) –, geschrieben nach dem Tod der Vittoria Collona (1547/48), ist je eine Textzeile mit einem einzigen Ton versehen, von der Sängerin frei nach Oktav und Rhythmus zu interpretieren. Die Chorbegleitung umfasst drei Chorgruppen mit drei Dirigaten, die gemeinsam mit der Solistin die jeweilige Version des Stückes im Moment seiner Aufführung gestalten. Auf der Grundlage des C-Dur-Akkordes sind freie Ausführungen von Halbtonschritten (C-> H, E-> Es, G->As) vorgesehen, die mehrere (nichtfunktionale) Dur- und Moll-Akkordmöglichkeiten eröffnen. Ein Stück ’ohne Entwicklung’, ohne Entwicklungsmöglichkeiten.
     Das Stück »Hannah« (1995) entstand anlässlich einer Betrachtung von Rembrandts Gemälde »Die Prophetin Hannah« (1631), auch betitelt mit »Lesende alte Frau« und »Porträt von Rembrandts Mutter«. Zur Entstehung der Komposition auf Texte von I. Knips, D. Mayer, M. Niehaus und M. Schubert schreibt D. Bonnen: „Ich fragte vier Freunde, die auf unterschiedliche Weise mit Sprache zu tun haben, ob sie, von dem Bild ausgehend, etwas schreiben würden, das singbar ist. (…) und das Ergebnis war für mich völlig unerwartet: Es gibt keine inhaltlichen Überschneidungen, dennoch ergänzen sich die Texte auf manchmal ungewöhnliche Art, indem beispielsweise der Inhalt des einen mit der Form des anderen korrespondiert. Ebenso unvorhergesehen war, daß die Texte mehrsprachig sind. (…)
     Die vier Texte wurden von mir collagiert, wobei ich versucht habe, Formeinheiten zu berücksichtigen. (…) Außerdem habe ich einige der im Text auftretenden Bibelstellen in der Übersetzung der King-James-Ausgabe des 17. Jahrhunderts hinzugefügt." (Partiturheft, Köln 1996; Edition Dohr) Das Stück, komponiert in einer Reihentechnik mit sechs Tönen, ist hier eingespielt in der Fassung für zwei Frauenstimmen.
     Das »Quintett über eine Folge von Tönen bei Bach« (1997) ist hier in einer Version für Sopran-Vocalise (1. Stimme) und Klavier (2. - 5. Stimme) eingespielt. Zu seiner Rhythmus- und Harmoniestudie schreibt D. Bonnen: „Das »Quintett über eine Folge von Tönen bei Bach« bezieht sich auf die Melodie »Gib dich zufrieden und sei stille« (BWV 511) aus dem Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach. Die hier vorliegende Fassung … ist nur eine mögliche Version. Wie bei vielen Stücken Johann Sebastian Bachs lässt sich die Komposition in unterschiedlichen Instrumentationen ausführen, ohne den musikalischen Inhalt zu beeinträchtigen.” (Partiturheft, Köln 2000; Edition Dohr)
grafische Notation Al Garabia
     In der zur Hälfte graphisch notierten Liedkomposition »Algarabìa« (1996) auf einen Text von I. Knips, angeregt durch Goyas Capricho Nr. 43 (Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer; datiert 1797), sind Linien eines ruhigen Schlafes Linien von Albträumen entgegengesetzt und mit ihnen verwoben. Goyas Capricho an der Schwelle des Spätbarock zur Neuzeit, der Künstler schlafend am Arbeitstisch und umgeben von Chimären dargestellt. Die Resonanz der zeitgenössischen Komposition: Quälen die Ungeheuer allein die schlafende Vernunft, oder erzeugt auch die wache Darstellung einer schlafenden Vernunft die Ungeheuer an den Grenzen einer Verwicklung von Illusionen? Das „no!”, das die Kompositionslinien fragmentiert, ist ambivalent und aporetisch, nachdenkend vielleicht zu beruhigen, kaum aber hörend.
Ignaz Knips
Das italienische „verruca” = Warze oder das portugiesische „berrueco” = schiefe Perle bezeichnet etwas, das, zwar im Rahmen der Normalität, aber doch eine Abweichung von der (idealen) Norm darstellt*. Der Titel dieser CD steht für eine Sammlung von Musik-, vorzugsweise von Gesangsstücken, die durchaus Bekanntes aus dem Zeitalter des Barock vorstellen, dies aber in veränderter, ungewohnter „schiefer” Form. „Die ursprünglichen Formen sind nicht einfach so belassen, sondern klanglich und rhythmisch umgestaltet worden”, erklärt die Sängerin Susanne Hille, die sich selbst für einen barocken Menschen hält, was durchaus zutreffend erscheint, wenn der Begriff „barock” – im ursprünglichen Sinne verwendet – „schiefe Perle” bedeutet: selten, wertvoll, glänzend, aber nicht glatt, sondern eigentümlich einzigartig und somit unverwechselbar.
     In der Kunst dieser Epoche wird der real existierende Mensch zum Mittelpunkt des Dargestellten; seine Leidenschaften, seine sinnlich-körperlichen Erfahrungen in der ganzen Breite lebensnaher Erscheinungsformen werden unverstellt zum Ausdruck gebracht und nicht hinter einer „schönen” künst—lichen Ideal-Gestalt verborgen. Aufgrund einer natürlich vorhandenen Beziehung von rhythmischer Beweglichkeit und plastischer Stabilität vermittelt Susanne Hille mit ihrem facettenreichen Sopran unmittelbar lebensechtes Empfinden und Bedürfnis; ihrer Stimme ist „Gekünsteltes” fremd. In diesem Sinne trifft sie das, was aus kunsthistorischer Sicht als „barockes Lebensgefühl” den soziologischen Hintergrund für die Entwicklung des barocken Stils in Architektur, Malerei und Musik abgibt.
Hannah
     Arien und Madrigale von Claudio Monteverdi bilden sozusagen das Gerüst des Programms, in welches neuzeitliche Kompositionen von Dietmar Bonnen eingearbeitet sind, die sich inhaltlich mit barocken Themen auseinandersetzen. Es handelt sich dabei unter anderem um musikalische Umsetzungen von Werken bildender Künstler: ein Gedicht Michelangelos, dem „Vater des Barock”, »I’sto rinchiuso come la midolla« und das Rembrandt-Gemälde »Die Prophetin Hannah«. Goyas berühmtes Blatt mit dem Titel »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« ist als Grundlage für »Algarabìa« zwar nicht der Barock-Kunst zuzuordnen, passt aber thematisch insofern, als die „dunkle” Seite des Triebhaften zur Darstellung kommt, der sich der barocke Mensch mit allen (künstlerischen) Mitteln entgegenzustellen sucht; das »Quintett über eine Folge von Tönen bei Bach« stützt sich hingegen nicht auf ein Gedicht oder ein Bild, sondern auf eine musikalische Quelle.
     Kennzeichnend für barocke Ausdrucksformen ist, kurz gesagt, die expressiv-künstlerische Darstellung der Spannung zwischen Leben und Tod, zwischen einem expansiven Streben nach triebhaftem Lebensgenuss wie ekstatischer Leid- und Schmerzerfahrung und der Angst vor dem Ende, der Unausweichlichkeit des Todes. So könnte man die Klage, vor allem, wenn sie in der ästhetischen Form des musikalischen Lamento daherkommt, als Ausdruck eines trotzigen Lebenswillens angesichts des Todes, des Verlusts, der Notwendigkeit des Verzichts interpretieren. Barocke Klagen sind es denn auch, die das übrige musikalische Programm auf dieser CD einrahmen: die singende Stimme wird in beiden Aufnahmen begleitet, vielleicht besser beantwortet von den kraftvollen Schlägen eines Bildhauers, der in der »Klage des Orfeo« aus Monteverdis Oper gemeinsam mit dem Zuhörer das menschliche Leiden aus dem Diesseits vernimmt. Umgekehrt tönen während der »Klage der Arianna« die akustischen Signale ungebrochen kreativer Schaffenskraft aus dem Jenseits zu dem mitleidenden, hörenden Menschen herüber, der sich im Spannungsfeld zwischen einem euphorischen Gefühl von Ewigkeit und verzweifelter Gewissheit über die Endlichkeit seiner irdischen Existenz erleben darf.
     Die dem Barock zugeschriebene Tendenz zum Überschwang, zum „Regelwidrigen” und „Sonderbaren”, was bei der ursprünglichen historischen Verwendung des Begriffs durchaus entwertend gemeint war, entspricht dem Einsatz der Stimme als Ausdrucksmittel extremer dramatischer Spannungsänderungen besonders in den Stücken von D. Bonnen, die Susanne Hille mit der ihr eigenen sinnlichen Lust am Theatralischen hörbar zur Darstellung bringt. Stimmlich flexibel und dynamisch gelingen ihr bewegende Lautstärke- und Tempoveränderungen sowie Registerwechsel in kurzer Zeitabfolge. Im »Quintett über eine Folge von Tönen bei Bach« wird die zurückgenommene Singstimme zum Instrument, das gleichberechtigt mit den anderen Stimmen kommuniziert. Andererseits vermittelt Susanne Hille aber auch traditionelle Festigkeit, man könnte sagen „Bodenständigkeit”, die sie den hinzugefügten klanglichen und rhythmischen Veränderungen bei den Monteverdi-Kompositionen (Lettera amorosa, Partenza amorosa, Duette) durch melodische und Ton gebende Konstanz entgegenhält.
     Zum großen Teil hat Susanne Hille die hier zusammengefassten Gesangsstücke anlässlich von Ausstellungs-Eröffnungen oder im Rahmen gesamt-künstlerisch gestalteter Konzert-Projekte wie z.B. mit dem ENSEMBLE PALLA vorgetragen. Hierin kommt gleichermaßen ihre persönliche Verbundenheit mit Musik und Kunst zum Ausdruck, was ihre künstlerische Entwicklung sicher wesentlich beeinflusst hat. Susanne Hille als Person und Sängerin erweckt stets die Vorstellung einer lebendigen und fruchtbaren Beziehung zwischen Klang und Gestalt, Ton und Bild, die nicht zuletzt ’realen Niederschlag’ in der Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Bernhard Kucken findet. Diesem in positivem Sinne spannungsreichen Zusammenwirken verdanken wir auch das sinnliche Vergnügen beim Hören dieser CD und beim Blättern im Beiheft.
Andrea Rosenschon