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IVAN SOKOLOV
"ICH BIN EIN KOMPONISTENSPIELER"
Wenn der Pianist und Komponist Ivan Sokolov zwischen seinen Wohnsitzen
in Köln und Moskau pendelt, spiegelt die geografische Distanz, die er dabei
zurücklegt, den musikalischen Horizont, den seine Arbeit aufweist.
Früh verband der heute 36jährige Russe sein drängendes Interesse für westliche
Avantgarde mit den eher konservativen Inhalten einer Konservatoriumsausbildung.
Wir trafen Ivan Sokolov zu einem Gespräch über seinen musikalischen Werdegang
und seine aktuellen Projekte.
Ivan, du bist Mitbegründer der Aternativa, des ersten Festivals
für avantgardistische Musik in Moskau. Ging das ohne politische Repressalien
vonstatten?
Vor dem ersten Festival im Juni '88 gab es ein Konzert mit Stockhausen-Kompositionen.
Das war ein Versuch, die Bedingungen zu testen. Und dann konnten wir Alexei
Liubimow als Initiator der Veranstaltung gewinnen. Wir haben die ersten
Konzerte auf eigenes Risiko veranstaltet. Und die Atmosphäre war sagenhaft.
Dann gab es gleich drei Monate später im Herbst '88 die nächste Aternativa.
Sie war schon gründlicher organisiert, und wir hatten Geld. Bis zum Ende
der Sowjetunion '92 haben wir immer sehr viel Unterstützung gehabt und konnten
tolle Projekte machen, z.B.: ein Konzert mit sieben Flügeln, Terry Riley,
Steve Reich, Morton Feldman und auch russische Minimalisten. Aber '92 war
das vorbei. Dann haben wir eine kleine Aternativa veranstaltet.
Aber das waren sicher nicht deine ersten Begegnungen mit der
westlichen Avantgarde...
Das Problem war, daß man an die Sachen nie herankam, auch nach '88 blieb
das schwer. Wenn man dann ein Steve-Reich-Stück gefunden hatte, wurde das
enthusiastisch empfangen, weil man so etwas noch nie gehört hatte. Alle
waren hungrig. Auch ich spürte in meiner Entwicklung, daß ich Stockhausen,
Cage, Kagel usw. brauchte.
Die Situation änderte sich dann schlagartig...
Der Westen kam nach Rußland. Im März '90 kamen Boulez, Stockhausen und Kagel,
Cage kam '88. Eine sehr interessante Zeit, es gab noch Geld, es gab noch
eine Sowjetunion. Wir haben '92 zum ersten Mal Feldmans »For Philip Guston« gehört,
4 1/2 Stunden, Tasteninstrumente, Flöte und Schlagzeug, eine ganz meditative
Musik. Das war für uns in Moskau eine Offenbarung.
Wie verlief denn die Kompositionsausbildung vor diesem Austausch?
Ich habe '78 angefangen, bis '83 war die schlimmste Zeit. Die Ausbildung
war gut und sehr frei. Nur Theorie und Polyphonie wurden nach dem Lehrbuch
betrieben. Wir haben moderne Harmonisierungen gemacht, z.B. ein Stück im
Stil von Hindemith schreiben, oder wie Messiaen, Zwölftonmusik. Das war
schon relativ modern, aber das durften wir immerhin machen.
Wer hat bestimmt, was erlaubt war?
Juri Chalobow, der Professor für moderne Harmonielehre, hat das durchgesetzt.
Das mußte durch alle bürokratischen Instanzen gehen, eine listige Arbeit.
Dort saßen Menschen, die das nicht verstanden haben. |
Wie gestalteten sich die Repressalien
konkret?
Seit Breschnew konnte man theoretisch alles machen, aber die Mittel
waren geschickt beschränkt. Man konnte etwa keine Partituren kaufen. Meine
Tante arbeitete in einem Musikverlag. 1983 hatten sie dort einen Klavierauszug
von »Wozzeck« gemacht. Für uns ein Glücksfall, denn man konnte das kaufen.
Die Partitur gab es nur in einem einzigen Exemplar in der Moskauer Bibliothek.
Aber dann gab es einen Skandal: Chilenikow, der Vorsitzende des russischen
Komponistenverbandes, rief an und schimpfte, warum haben Sie das gemacht.
Also, es war nicht offiziell verboten, aber man war dann eben kein Freund
mehr von Chilenikow, das hieß konkret, man konnte dann auch keine bezahlte
Auslandsreise mehr bekommen mit Tagesgeld.
Ein Teil Stockhausen war erlaubt, ein Teil nicht?
Der Name Stockhausen war wie ein rotes Tuch, wenn man ein öffentliches Konzert
machen wollte, mußte das genehmigt werden, und Stockhausen wurde nicht genehmigt.
Auch Alte Musik wurde völlig totgeschwiegen. Die Musikgeschichte fing bei
uns mit Bach an.
Wart ihr von der westlichen Neuen Musik abgeschnitten?
Wenn sich etwas bewegte, dann nur auf Privatinitaitive hin. 1984 kam
Alfred Schnittke, unser Komponist Nr.1, auch er war früher verboten, zu
uns in die Musikhochschule, und er brachte viele Aufnahmen mit, etwa Heinz
Holliger. Wir waren nur damit beschäftigt, die Partitur richtig umzublättern,
das war schwierig genug. Alle waren schüchtern, und als Schnittke uns aufforderte,
Fragen zu stellen, traute sich niemand. Auch ich war natürlich sehr schüchtern,
und dann, als es unerträglich wurde, da habe ich ihn gefragt, was denken
sie über »4:33«? Als er antwortete, ich habe das noch nicht live gehört,
ich habe nur eine sehr gute Aufnahme - haben wir alle gelacht! Und er sagte
weiter, ich denke, man kann dieses Stück nur einmal hören, beim zweitenmal
ist der Effekt verloren. Das war seine damlige Einstellung, das akzeptiere
ich, aber später entwickelte ich dazu andere Ansichten.
Hat bei deiner Ausbildung die Improvisation eine Rolle gespielt?
Nein, sie wurde völlig vernachlässigt. Es gab am Konservatorium keine Jazzabteilung.
Aber es gab einen Improvisationswettbewerb, da konnte sich jeder melden.
Ich habe mich damals nicht gemeldet, ich glaube, ich war als Student psychologisch
nicht dazu bereit. Statt dessen hörte ich habe mit großem Interesse zu,
aber die Leute waren zu eingeschränkt. Im Grunde waren das keine wirklichen
Improvisationen, entweder waren das feste harmnische Schemata oder traditionelle
Jazzimproviasation mit ganz strengen Vorbildern, also kaum eine freie Improvisation.
Ich glaube, die Menschen in der Sowjetunion, besonders die jungen, waren
damals psychologisch nicht frei genug, sie konnten nicht improvisieren,
ich vor allem. Ich habe das in mir erst entdeckt, als diese Freiheit kam.
'88 dann der Durchbruch. Alles war sofort erlaubt. Ich habe mich sehr schnell
weiterentwickelt, als Mensch, als Komponist, als Künstler. |
Wie hat sich die Begegnung mit
der westlichen Avantgarde auf deine eigene Arbeit ausgewirkt?
In einer Phase Ende '80 Anfang '90 habe ich viel mit Klängen experimentiert.
Aber mich interessiert das Klavier als Instrument, es ist mein Instrument.
Wir haben auch Sachen für präpariertes Klavier gespielt, von Cage, Georg
Crumbs "Macrokosmos". Aber jetzt inspirieren mich Texte mehr.
Ich komponiere Lieder im Augenblick, sagen wir: Vertonungen. Was mich fasziniert,
sind Texte. Texte russischer Dichter.
Ich glaube, es kommt jetzt eine Epoche großer Diffusion. Die Stile mischen
sich, wechseln frei. In der Sowjetunion war alles politisiert, jeder Komponist
wußte genau: ich bin Minimalist oder Zwölftöner oder Traditionalist oder
Avantgardist. Und der Avantgardist durfte einfach kein Stück aus drei Harmonien
komponieren, das ging nicht. Mein Kompositionslehrer Sidelnikow, ein freigeistiger
Mensch, der sehr modern komponiert hat, hatte ein Stück mit einem Schlußchor,
der klang wie ein Beatles-Lied. Das Stück hat alle Theoretiker wütend gemacht.
Alle haben gesagt, Sie haben ein so schönes Werk gemacht und zum Schluß alles
in den Dreck gezogen. Wie konnten Sie das! Dabei war das ganz logisch. Jetzt
geht das.
Mit deinen Kölner Kollegen Dietmar Bonnen und Ernst Gaida-Hartmann
spielst du ein Stück, in dem du auf sehr witzige Weise Cage aus Bach entwickelst.
Es gibt eine Theorie, die Musikgeschichte als Geschichte der Obertonreihe
beschreibt. Am Anfang, in der Gregorianik, wurde einstimmig gesungen, dann
kam die Organum-Epoche mit Quinten und Quarten, dann die ersten Dreiklänge,
aber ohne Grundton, also ohne Dominantseptakkord, der zur Tonika führt,
und dann kam die Septime mit Dominantseptakkord und Tonika, dann die temperierte
Stimmung und Bach, der achte Oberton, das Zentrum der Musikgeschichte. Dann
kam schon die Verdorbenheit, die None, die Ganztonskala, die Zwölfton-Musik,
dann die Elektronik mit Mikrotonalismus, da war im Grunde Schluß, bis Cage
zur richtigen Zeit mit seinem »4:33« kam. Und jetzt kommen wir, mischen
alles, und die Musikgeschichte geht raus aus der Obertonreihe. Das mußte
ich zeigen in dem Stück. Bach ist der achte Oberton, Cage ist der Schluß und
der Übergang in eine andere Dimension. Das ist das Körnchen Wahrheit an
diesem Stück.
Du bist auch Mitglied des Deutsch- Russischen Komponistenquartetts,
das ja schon in seiner Besetzung die Überschreitung von Stilgrenzen zum
Programm erhebt.
Der Pianist Dietmar Bonnen spielte auf der Aternativa '92 mit seiner
Gruppe FLEISCH. Wir verabredeten spontan ein gemeinsames Projekt. Dazu kamen
noch der Geiger Alexei Aigui und der Bratschist Manfred Niehaus. Das sind
vier Komponisten mit einer jeweils sehr unterschiedlichen Entwicklung. Manfred
Niehaus und ich stehen mehr in der Tradition der komponierten Neuen Musik,
wobei bei Manfred auch früh die Beziehung zum Jazz eine große Rolle gespielt
hat. Dietmar und Alexei bringen eine deutliche Affinität zur Rockmusik mit
ein. Was uns gemeinsam reizt, ist die Gegenüberstellung und Durchdringung
der Stile, auch die Gegenüberstellung frei improvisierter und auskomponierter
Passagen. Wir haben auch eine Platte eingespielt, eine WDR-Produktion, die
beim Londoner Label Leo Records erschienen ist. |
Kommen wir einmal auf den Pianisten
Sokolov zu sprechen. Kannst du etwas über deine Technik erzählen?
Als ich zwölf war, hatte ich fast zwei Jahre Privatunterricht bei Lew Naumov,
der auch später am Konservatorium mein Lehrer wurde. Er verfügt über eine
unglaubliche Technik. Er hat mir die ganze Technik beigebracht. Er hat viel
Zeit in mich investiert. Vor ihm hatte ich einen anderen Lehrer, Nicolai
Stanischweski, ein totaler Einzelgänger, der völlig anders unterrichtete.
Er legte Wert auf eine ganz strenge Beherrschung der Grundelemente. Seine
Fingerübungen bei kleinen Passagen unterschieden sich sehr von der traditionellen
Schule. Jeder Finger sollte mindestens einmal jede Note spielen, ganz langsam.
Nach jedem Anschlag mußte ich die ganze Hand spreizen. So kam es vor daß ich
für ein Stück, das normalerweise eine Minute dauert, fünfzehn Minuten brauchte.
Er glaubte, daß man diese Übungen später nicht mehr wiederholen müßte, so
tief würde sich das einprägen. Das wirkt sich natürlich später aus auf die
ganze Phrasierungs-technik, also das, was das Spiel ja eigentlich ausmacht,
auch wenn das im Detail keiner mehr heraushört. Von Swjatoslaw Richter ist
die nette Geschichte überliefert, daß er einmal in eine Wohnung zog, über
der eine Pianistin die dritte Sonate von Prokofieff spielte. Er selbst hatte
kein Klavier zum Spielen, also konnte er sich ganz auf das Spiel seiner
Kollegin konzentrieren. Und er sagte: Um Gottes willen, sie spielt den falschen
Fingersatz! Er hörte das, und es quälte ihn.
Wo ordnest du dich ein in der russischen Klavierschule?
Es gibt vier unterschiedliche Strömungen. Jede wurde von einem großen Pianisten
begründet. Neuhaus, Goldenweiser, Feinberg und Marie Judina. Alle wirkten
zur gleichen Zeit in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Ich beziehe
mich auf Neuhaus, obwohl ich in technischer Hinsicht gewiß nicht der typische
Neuhaus-Schüler bin.
Was zeichnet die Neuhaus-Schule für dich aus?
Sie ist auf die Musik fixiert, nicht auf die Technik. Analyse, Inhalt
und geistiger Gehalt der Musik stehen im Vordergrund. Es ist eine besonders
romantische, gefühlvolle Schule. Die unterschiedliche Auffassung der einzelnen
Schulen kann man vielleicht daran verdeutlichen, wie man Bach spielt. Neuhaus
interpretierte Bach unglaublich romantisch, er konnte ihn jedoch auch streng
klassisch spielen. Jedenfalls konnte er, wie wir das in Rußland sagen,
das Feuer unter den sieben Panzerschichten fühlen.
Wenn wir dagegen die Schule von Feinberg nehmen, dort hören wir eine ganz
freie Interpretation, mit vielen rhythmischen Akzenten, mit meiner Meinung
nach zuviel Freiheit. Dennoch hat jede einzelne Idee ihren Sinn, alles ist
logisch, was Feinberg macht. Alle vier auch waren auch Komponisten. |
Gibt es darunter eine dominierende
Schule?
Eigentlich nicht. Obwohl ich glaube, daß Neuhaus als Pianist eine größere
Bedeutung hat als etwa Goldenweiser, schon allein wegen der weitaus bekannteren
Schülerschaft mit Richter und Emil Gilels. Marie Judina ist natürlich auch
eine ganz wichtige Persönlichkeit, weil sie in Rußland vor allem als moderne
Interpretin in Erscheinung getreten ist. Sie war diejenige, die zuerst in
der Sowjetunion die Moderne Musik bekannt gemacht hat, mitten in der schlimmsten
Zeit. Nach Stalins Tod begann sie einen regen Briefwechsel mit den bedeutendsten
modernen Komponisten, mit Strawinski, auch mit Stockhausen. Judiner war
die Anlaufstation für junge avantgardistische Komponisten. Ich besitze übrigens
noch eine Tonband-aufnahme eines Konzerts von 1973 im Moskauer Konservatorium
mit Musik von John Cage. Man hört deutlich die Unmutsäußerungen der Professoren,
die mit dieser Musik gar nichts anzufangen wußten. Vierzehn Jahre später
spielte Cage im selben Raum, Nr. 21, und dieselben Leute, die damals schimpften,
klopften ihm auf die Schulter. Das einzige, was sich geändert hatte, war,
daß statt Breschnew nun Gorbatschow an der Wand hing!
Du gibst aber auch Konzerte mit klassischem Repertoire, bemühst
du dich da um Werktreue oder nimmst du dir jede Freiheit?
Es gibt viel in der Klassik, das mir gefällt, und vor allem in der Musik
von Scriabin, Debussy, Prokoffief. Eigentlich suche ich immer den modernen
Blick auf die Sachen, suche nach neuen interessanten Inhalten. Aber es kommt
darauf an, manchmal spiele ich auch sehr akademisch. Im Moment finde ich
gut, daß ich in meinem Beruf als Pianist sehr oft wiederholen muß, etwas
immer und immer wieder gleich spielen, das wirkt auf meine Seele manchmal
viel besser als untreu sein und im Komponisten mehr entdecken als er sagen
wollte. Obwohl Mussorgski etwa provoziert uns, mehr zu entdecken, wie uns
auch Cage provoziert oder Scriabin, aber die Provokationen von Scriabin
sind akademisch, man kann das Tempo wechseln, polyphonische Feinheiten wechseln.
Manchmal habe ich Lust, auf diese Provokationen zu antworten. Aber manchmal
habe ich Lust, ganz treu Sonaten von Mozart zu spielen.
Wie siehst du deine weitere Entwicklung?
Ich bin Komponist und Pianist. Ich gehe beide Wege. Mein Lehrer Sidelnikov
sagte immer, Sie müssen breiter werden, vielseitiger, ein Spezialist will
immer mehr und mehr wissen über immer weniger und weniger, zum Schluß weiß er
alles über nichts. Cage hat alles in »0:00« untergebracht.
Interviewer:
Tom Fuchs und
Manfred Müller
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