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HaWebe – Lapislazuli

HaWeBe - Lapislazuli

OEE 99.4 HaWebe (Hans-Werner Berretz) »Lapislazuli«
mit Dietmar Bonnen »Muspilli«

Von D. Bonnens Komposition für 2 Chöre und Orgel »Muspilli« auf einen apokalyptischen, mittelhochdeutschen Text aus dem 9. Jh., der als Fragment auf dem Rand eines Kodex gefunden wurde, angeregt, fertigte der Maler HaWebe (Hans-Werner Berretz) aus Lapislazuli-Pigmenten 99 monochrome Karton-Bilder, die alle leicht in ihrer Struktur differieren. Indem er 99 signierte Originale malte, wurde HaWebe so selbst zur Vervielfältigungsmaschine, die ein Auflagenobjekt produzierte.

Muspilli

Das "Muspilli" ist ein althochdeutsches Gedicht aus dem 9. Jahrhundert, von dem uns nur ein Fragment auf dem Rand eines lateinischen Codex erhalten ist.

Die Form dieses Gedichts geht auf den althochdeutschen Stabreimvers zurück: Das Gedicht ist nicht durch Reime am Zeilenende gebunden, sondern durch gleiche Konsonanten am Anfang betonter Silben: So inprinnant die perga, poum ni kistentit.

Das "Muspilli" gibt christliche Vorstellungen vom Geschehen nach dem Tode wieder, die teils auf der Apokalypse, teils auf Apokryphen und auf antiken Schriften beruhen. Nach dem Tod des Menschen kämpfen Engel und Teufel um die Seele des Verstorbenen, dann folgt der Kampf des Elias mit dem Antichristen und das Jüngste Gericht. Durch den Kampf des Propheten mit dem Antichrist wird der Weltenbrand ausgelöst, dessen Schrecken im hier verwendeten Ausschnitt (V. 51-57) dargestellt sind. Die schlimmste Zerstörung, der größte Schrecken wird mit dem Wort "Muspilli" beschrieben, dessen Herkunft nicht ganz klar ist. Es könnte - ebenso wie der verwendete Stabreimvers - aus der germanischen Tradition stammen; es kommt auch im Altsächsischen und Altnordischen für den größten Schrecken vor. Das Wort könnte aber auch eine christliche Neubildung sein, die in den drei Sprachen benutzt wurde. Beachtlich ist, wie der Dichter unter Verwendung einer germanischen Dichtform die Mahnung zu einem christlichen Leben formuliert, wobei er in kräftiger Sprache alle Schrecken des Weltendes heraufbeschwört.

Muspilli, V 51-57
so inprinnant die perga, poum ni kistentit
enihc in erdu, aha artruknent,
muor varsuuilhit sih, suilizot lougiu der himil,
mano uallit, prinnit mittilagart,
sten ni kistentit, uerit denne stuatago in lant,
uerit mit diu uuiru uiriho uuison:
dar ni mac denne mak andremo helfan uora demo muspille.

Übersetzung:
Da fangen die Berge zu brennen an, kein Baum bleibt stehen,
kein einziger auf der Erde. Gewässer trocknen aus,
das Moor verschlingt sich selbst, in Feuer vergeht der Himmel,
der Mond fällt herunter, der Erdkreis brennt,
niemandem auf der Erde bleibt ein Stein auf dem anderen,
der Tag des Jüngsten Gerichts zieht ins Land,
er kommt mit dem Feuer, die Menschen heimzusuchen.
Da kann kein Angehöriger dem andern helfen vor dem Weltuntergang.

Da pacem
Im Ablauf der Messe ist zwischen "Vater unser" und "Lamm Gottes" ein Friedensgebet eingeschoben, in der heutigen deutschen Messe mit dem Text: "Der Herr hat zu seinen Aposteln gesagt: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch." Die Formulierung des Gebets unterlag allerdings über die Jahrhunderte großen Schwankungen. In den einzelnen Kirchenprovinzen traten andere Gebetsformeln auf, wie aus den Missalen, den Aufzeichnungen über die Meßtexte, hervorgeht. Eine dieser Formeln ist das "Da pacem", wie das "Muspilli" im 9. Jh. entstanden. Überliefert ist das "Da pacem" wesentlich später: so im Missale von Evreux-Jumieges (ca. 1400) und im Missale von Barcelona (ca. 1500).

Beim Konzil von Trient 1562 wurden die verschiedenen Meßversionen wieder vereinheitlicht, so daß heute das "Da pacem" als Gebet, nicht mehr als Bestandteil der Liturgie bekannt ist. Als inbrünstiger Ruf nach Frieden ist es in den letzten Jahrhunderten mehrfach vertont worden.

Da pacem
Da pacem, Domine, in diebus nostris.
quia non est alius qui pugnet pro nobis,
nisi tu Deus noster.

Übersetzung:
Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen,
denn es ist niemand sonst, der für uns kämpfe,
außer Dir, unser Gott.

Dr. Martin Schubert
(Vorwort zur Notenausgabe)

Eine von drei in den letzten Jahrzehnten entstandenen Vertonungen des "Muspilli" stammt von Dietmar Bonnen. In seiner 1994 entstandenen Komposition kontrastiert er die oben übersetzt zitierten, von Frauenstimmen vorgetragenen althochdeutschen Verse mit dem von Männerstimmen gleichzeitig ausgeführten lateinischen Friedensgebet Da pacem, Domine, in diebus nostris. Dieses Gebet stammt, wie das "Muspilli", aus dem 9. Jahrhundert und war ursprünglich Bestandteil der Liturgie zwischen "Vater unser" und "Agnus Dei". Indem Bonnen beide Texte gleichzeitig erklingen läßt, stellt er den Schrecken der Weltuntergangsvision die liturgisch geprägte Bitte um Frieden gegenüber. Apokalypse und erbetenes Friedensreich werden derart eng aufeinander bezogen, daß sie sich gegenseitig interpretieren und bedingen. Der Weltenbrand wird vor den Horizont des Friedens gestellt, der Ausblick auf den Frieden erfolgt vor dem Hintergrund der Apokalypse.

Die gesamte Komposition beruht in allen ihren Schichten - dem Frauenchor (Muspilli), dem Männerchor (Da pacem) und der Orgelbegleitung - auf demselben Tonmaterial: der Sechstonreihe as - b - c - des - es -f, die in der Art einer dodekaphonischen Reihentechnik verarbeitet wird. Die Intervalle entsprechen in ihrer horizontalen Ausrichtung einem Hexachord aus zweimal zwei Ganztonschritten mit in der Mitte liegendem Halbtonschritt. Mit Hilfe derartiger Hexachorde systematisierten die mittelalterlichen Musiktheoretiker (erstmals Guido von Arezzo) den gesamten damals gebräuchlichen Tonbereich. Die Verwendung eines mittelalterlichen Hexachords als Grundreihe ist in Bonnens Vertonung gewiß kein Zufall. Es verweist - bei gleichzeitig moderner Kompositionstechnik - zurück in die Zeit der Entstehung sowohl des "Muspilli" wie des Friedensgebetes. Unterstützt wird dieser zeitliche Rückbezug durch den vertikalen Zusammenklang. Der häufige Gebrauch von Quart- und Quintintervallen erinnert an die mittelalterliche Organa-Praxis und vermittelt einen - freilich an moderner Tonsprache gebrochenen - archaischen Klangeindruck.

Dr. Raymond Dittrich
(Auszug aus dem Vortrag: Aspekte der Eschatologie in der Musikgeschichte)